Kennen Sie den Undertaker? Oder Stone Cold Steve Austin? Hornswoggle? Den großartigen Khali? Nicht? Machen Sie sich nichts draus. Fragen Sie einfach Ihren Sohn. Was sich anhört, wie die Karten eines Mutanten-Quartetts, sind allesamt Stars einer pompösen Show, die auch in Deutschland immer mehr junge Anhänger findet: Wrestling. In den USA gehört Wrestling längst zu den Mega TV-Events: Rund 15 Millionen Zuschauer sind Woche für Woche live dabei und garantieren Millionen Dollar Werbeumsätze. Die Stars werden vergöttert wie hierzulande nur Oliver Kahn oder der Schweizer Ex-Kreiselfahrer Michael Schumacher. Nun schwappt die Wrestling-Euphorie nach Deutschland und gestandene Eltern zweifeln plötzlich am Geisteszustand ihres Nachwuchses.
Deutschlands Erziehungsberechtigte stehen sichtlich ratlos vor den seltsamen Postern, die neuerdings an den Wänden ihrer Jugendzimmer prangen. Selbst der ehrwürdige Spiegel fühlte sich berufen, ob des neu entfachten Wahns durch einen mit heißer Nadel gestrickten Artikel etwas zur Diskussion beizutragen. Er zitiert unter anderem das Stuttgarter Ordnungsamt, nach dem die “Prügel-Show in krassem Widerspruch zu sportlichen Wettkampfregeln” stehe und kritisiert die rüden Beschimpfungen zwischen den Akteuren und deren Publikum. Liebe Kollegen, Thema verfehlt.
Deutschland ist skeptisch, weil Deutschland Wrestling nicht versteht. Wrestling ist kein Sport, erhebt auch diesen Anspruch nicht. Wrestling ist eine gigantische Show.
Jeder Kämpfer hat sein eigenes, von Marketingexperten auf dem Reißbrett konstruiertes Image. Jede Bewegung, jede Geste, jedes Kleidungsstück sind Teil der Kunstfigur. Die Bösen (heel) bringen das Publikum gezielt gegen sich auf, die Guten (face) lassen sich bejubeln. Die Akteure schlüpfen in klassische Rollen, wie den selbstgefälligen Schönling (MVP, Edge, Randy Orton), Monstren (Big Daddy V, The Great Khali) oder Psychopathen (Kane, Snitsky). Daneben gibt es auch Kämpfer, die offensichtlich weder gut noch böse sind , Tweener genannt, oder einen geplanten Rollenwechsel vollziehen, die so genannten Turner.
Auch jeder Kampf ist weitestgehend vorbestimmt. Vom Einmarsch der Kämpfer in die Arena bei eigens komponierter “Schlachtmusik” (Entrance Theme) über die Begrüßung der Fans, die Rededuelle vor dem Kampf, besondere Attacken bis hin zum finalen Angriff (Finisher) und dem nachfolgenden Auszug der Gladiatoren. Bewegende Geschichten über zerbrochene Freundschaften, verlorene Söhne oder erbitterete Feinschaften werden von hochbezahlten Hollywood-Autoren ersonnen. Marienhof auf amerikanisch.
Doch diese Choreographie endet nicht an den Ringseilen. Wie der Ringrichter hat auch das Publikum seine feste Rolle, ist Teil des Spektakels. Wird es von den Bösen beschimpft, pöbelt es lautstark zurück. Es bejubelt die Guten, gestikuliert, beleidigt und tobt wild bei jeder Aktion. Dieses “Heat” genannte Verhalten folgt festen Regeln und ist jedem halbwegs Eingeweihten bestens bekannt – einigen Jounalisten offenbar aber nicht.
Wrestling ist eine gigantische Marketingmaschine. In der inzwischen 40-jährigen Geschichte des US Wrestlings haben sich verschiedendste, publikumswirksame Spielarten entwickelt. Neben dem Mann-gegen-Mann Match mit bloßen Händen finden Team-Kämpfe (Tag-Team Matches), Frauen-Fights oder Kraftproben mit geänderten Regeln (no DQ, Last Man Standing), im Stahlkäfig oder mit durchaus hilfreichen Werkzeugen wie Leitern und Tischen viele begeisterte und zahlende Zuschauer. Es ist also wenig verwunderlich, dass die größte US-Wrestling Organisation, die World Wrestling Entertainment Inc., längst an der Börse ist und mit Umsatzzuwächsen von momentan rund 16 Prozent einen Marktwert von mehr als einer Milliarde Dollar besitzt.
Jenseits jeglicher Kritik bewegt sich aber auch das Wrestling nicht. Am Reißbrett der Schöpfer entstehen Charaktere mit oft riesigen Muskelmassen, wie z.B. der amtierende SmackDown World Heavyweight Champion “The Animal” Batista. Dass den Akteuren oft nicht die Zeit bleibt, diese Muskelpakete in jahrelanger, harter Trainingsarbeit aufzubauen und zu pflegen, liegt auf der Hand. Daher ist die Dopingdiskussion im Wrestling all gegenwärtig. Noch vor wenigen Wochen schockierte der Amoklauf des Wrestling-Stars Chis Benoit die Welt, der geschädigt durch jahrenlangen, offenbar massiven Konsum von Aufbaumitteln erst seinen siebenjähigen Sohn, dann seine Frau und schließlich sich selbst hinrichtete.
Fälle wie diese sind es, die hierzulande die werbetreibende Industrie noch davon abhält, im Wrestling aktiv zu werden. Noch. Hält der Zulauf an, ist dies wohl nur eine Frage von Monaten. Die Sendung Smackdown auf DSF freut sich inzwischen nicht selten über 500.000 Zuschauer, die aktuelle Smackdown Live Tour ist auch in deutschen Städten restlos ausverkauft und der Printbereich bietet mit Power Wrestling, Ringside und dem WWE Magazin schon drei deutschsprachige Lektüren. Auch Fan-Foren im Internet wie Moonsault oder WWE-Germany erfreuen sich steigender Beliebtheit.
Ganz fremd sollte Deutschland dieses Thema nicht sein, denn erstaulicherweise hat das “Wrestling” auch hierzulande eine eigene Tradition. Noch bis vor wenigen Jahren fanden sich auf hiesigen Rummelplätzen zahlreiche Catcher-Buden, in denen zahlendem Publikum eine fulminate Live-Show geboten wurde. Also, liebe Eltern, keine Sorge. Im Grunde ist alles beim Alten. Nur, dass die Show noch realistischer wurde, die Darsteller noch professioneller, dass man Show und Sport als Außenstehender kaum auseinander halten kann.
Das Wrestling-Vokabular hält für jene, die dies nicht können, eine eigene Bezeichnung bereit: Sie sind Mark.”Eine Person, die denkt, dass alles, was im Wrestling passiert, echt ist. Es leitet sich vom englischen Wort to mark = markieren her, da es früher ein Spaß war, solche Leute mit einem Stück Kreide zu markieren.”
Nette Idee. Nicht wahr, liebe Kollegen von Spiegel Online?